Was hilft langfristig?
Bei den meisten psychischen Störungen handelt es sich nicht um kurzfristige Beeinträchtigungen. Es sind chronische Erkrankungen, die oftmals über Jahrzehnte andauern. Häufig kehrt die Symptomatik Jahre nach Besserung wieder. So erleiden nach dem Abklingen einer depressiven Episode etwa 90 Prozent der Betroffenen einen Rückfall innerhalb der nächsten zehn Jahre. Von Zwangsstörungen ist bekannt, dass sie in über der Hälfte aller Fälle einen chronischen Verlauf nehmen.
Dies zeigt, wie wichtig die langfristige Wirksamkeit der Behandlung ist, sowohl für Psycho- als auch für Pharmakotherapie. Psychotherapie ist per se darauf angelegt, nachhaltig zu wirken, denn sie zielt darauf ab, dass der Patient neue Strategien im Umgang mit Belastungen erlernt. Die Leitlinien geben Orientierung und Entscheidungshilfe hinsichtlich der Diagnostik und Behandlung verschiedener Störungsbilder. Sie sind evidenzbasiert, die Aussagen und Empfehlungen beziehen sich auf Erkenntnisse, die durch wissenschaftliche Daten – kontrollierte und randomisierte Studien – belegt sind. Die Studien, auf deren Grundlage die Leitlinien entwickelt wurden, beziehen sich allerdings auf eher kurze Zeiträume. Oft wurde die Wirkung der Therapie nur über sechs bis acht Wochen getestet.
Gesucht: Langzeitstudien ohne verzerrte Ergebnisse
In den Leitlinien zu den meisten Störungsbildern findet sich kaum Evidenz aus Langzeitstudien zur Wirksamkeit psychotherapeutischer Verfahren. Langzeitstudien sind methodisch schwer durchführbar. Zum einen gibt es bei manchen Störungsbildern eine hohe Spontanremissionsrate im Langzeitverlauf. Besserungen der Symptomatik können nicht automatisch auf den Effekt einer erfolgten Behandlung zurückgeführt werden. Dies gilt auch für Placebo-Effekte, die beispielsweise bei der Behandlung von Schmerzen eine bedeutende Rolle spielen. Ein weiteres Problem bei der Zuordnung von Behandlungseffekten zur erfolgten Behandlung stellt die „Reinheit“ der Behandlung dar. Hierbei stellt sich die Frage, ob eine (streng) manualisierte oder mehr individuelle Therapie durchgeführt wurde in Kombination mit medikamentöser Zusatzbehandlung. Eine weitere Hürde bei Langzeitstudien stellen sehr geringe Rücklaufraten bei Langzeitkatamnesen dar. Weiterhin ist zu beachten, dass die Abbrecher-Raten bei Psychotherapie zwischen 20 und 40 Prozent liegen. In vielen Studien werden lediglich die Personen mit einbezogen, die eine Therapie vollständig (Completer-Stichprobe) durchlaufen haben. Diejenigen, die aus unterschiedlichen Gründen aus der Behandlung ausgeschieden sind (ITT-Stichprobe), werden nicht berücksichtigt. Hierdurch erfolgt oft eine gewisse „Schönrechnung“ der Ergebnisse der Behandlung. Eine weitere Quelle für verzerrte Darstellungen von evidenzbasierten Behandlungserbnissen stellt der sog. Publikationsbias dar. Das heißt, dass bevorzugt Studien mit positiven und/oder signifikanten Ergebnissen veröffentlicht werden. Und schließlich stellt sich die Frage, inwieweit Symptombesserung, welche in wissenschaftlichen Studien in der Regel das Maß für Behandlungserfolg darstellt, einer umfassenden Bewertung von Behandlungserfolg entspricht. Diese zielt auch auf Besserung der Lebensqualität und der sozialen Anpassung ab.
Antidepressiva: keine Langzeitwirkungen über das Ende der Therapie hinaus
Betrachtet man die Wirksamkeit von pharmakologischer Behandlung, so zeigt sich beispielsweise bei Antidepressiva ein rascherer Wirkeintritt nach Einnahmebeginn im Vergleich zur Psychotherapie. Dieser Vorteil gleicht sich im Zeitverlauf an. Auch muss beachtet werden, dass die Wirkung von Antidepressiva nicht über die Einnahmezeit hinaus anhält. Vielmehr gibt es aktuelle Befunde, die darauf hinweisen, dass nach Absetzen von Antidepressiva Reboundeffekte eintreten können, die das Absetzen erschweren. Die Vulnerabilität für depressive Rückfälle nach Absetzen der medikamentösen Behandlung ist möglicherweise sogar erhöht. Psychotherapeutische Verfahren haben im Vergleich einen etwas verzögerten Wirkeintritt, dafür aber einen nachhaltigeren Effekt (carry-over-Effekt).

Abbildung 1 – Vergleich der Wirkung von Psycho- und Pharmakotherapie im zeitlichen Verlauf; Prof. Dr. U. Voderholzer, Prien am Chiemsee
Psychotherapie braucht Zeit
Ziele und Inhalte von Psychotherapie sind neben der reinen Symptomreduktion auch eine Ressourcenaktivierung des Patienten. Patienten erlernen mit Hilfe einer Psychotherapie Strategien und Fertigkeiten, die sie über Beendigung der Therapie hinaus anwendbar sind. Dazu gehören funktionale Konflikt- und Problemlösefähigkeiten, Bewältigungsstrategien für schwierige Lebenssituationen und Möglichkeiten der Emotionsregulation. Patienten machen während einer Psychotherapie nachhaltige Selbstwirksamkeitserfahrungen. Diese wirken sich positiv auf die Bewältigung zukünftiger Situationen aus. Selbst nach Beendigung einer Psychotherapie können Patienten somit in der Lage sein, auf Belastungen funktional zu reagieren. Diese im Rahmen einer Psychotherapie erfolgten Lernprozesse benötigen Zeit. Danach weisen sie im Vergleich zu pharmakologischer Behandlung eine längere Wirklatenz auf (siehe Abbildung 1). Sie schlagen sich nachhaltig messbar auch neurobiologisch in verstärkter Aktivierung bestimmter Hirnareale nieder.
Fazit
Was die Langzeiteffekte von Psychotherapien angeht, besteht noch großer Studienbedarf. Die bisherigen Ergebnisse bei depressiven Störungen sprechen dafür, dass Psychotherapie im Vergleich zu Antidepressiva langfristig besser hilft. Auch für einige Störungsbilder wie zum Beispiel Zwangsstörungen empfehlen aktuelle Leitlinien eine Behandlung mit Psychotherapie. Aber das sind nur Inseln. Die Langzeiteffekte von Psychotherapie bei vielen unterschiedlichen Störungsbildern sollten in Zukunft deutlich mehr beforscht werden. Nur so erhalten wir eine weitere Evidenzbasierung für die Wirkfaktoren von Psychotherapie.
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- Quelle der Infografik: Vortrag Prof. Voderholzer, DGPPN Kongress, Berlin, 22. bis 23.11.2015
- Bild: Getty Images/Hero Images 478161703