Unsere Gastautorin Frau Dr. Antje Neumann behandelt seit 18 Jahren Patientinnen und Patienten in der Zahnarztpraxis Zahnärzte in Buchholz. Sie promovierte über Laserzahnheilkunde und ist zertifizierte Kinder- und Jugendzahnärztin. In ihrem Beitrag berichtet sie über ihre Erfahrungen mit Bulimikerinnen.
Bulimie: Das Problem erkennen…
Wir Zahnärzte können beim Kontrolltermin orale Manifestationen der sonst verheimlichten Erkrankung entdecken. Während die Patientinnen – denn es sind überwiegend Frauen – wegen ihrer Bulimie sich meist nicht an ihren Hausarzt oder gar direkt an einen Psychotherapeuten wenden, so gehen sie doch pflichtbewusst zum Zahnarzt. Sei es, weil sie gar nicht erwarten, in der Zahnarztpraxis auf ihre Ess-Brech-Sucht angesprochen zu werden. Oder sei es aus Eitelkeit: Weil sie bemerkt haben, dass das regelmäßige Erbrechen ihre Zähne angreift und diese nicht mehr so schön weiß aussehen, wie es die Patientinnen gern hätten. Unsere heikle Aufgabe besteht darin, die Patientin darauf anzusprechen und sie im besten Fall zu einer Psychotherapie zu bewegen.
…und dann enthüllen
Auf dem Anamnesebogen findet sich aus Scham oder mangelnder Krankheitseinsicht in der Regel kein Hinweis auf die Essstörung. Daher hat es sich bewährt, in der ersten Sitzung objektiv und neutral über den Befund und die Ätiologie aufzuklären, ohne die Krankheit beim Namen zu nennen. Dies gilt besonders für neue Patientinnen, zu denen ich noch kein Vertrauensverhältnis aufgebaut habe.
Besonders auffällig ist der Verlust von Zahnhartsubstanz an der Innenseite der oberen Zähne. Durch das häufige Erbrechen entstehen diese intrinsischen Erosionen, für die es den Fachausdruck Perimolysis gibt. Hilfreich ist dabei die Intraoralkamera. Die Bulimikerin ist sich der säurebedingten Schäden an ihren Zähnen oft gar nicht bewusst. Der Anblick des Fotos als heilsamer Schock kann zur Initialzündung werden, eine Therapie zu beginnen.
Dann kläre ich über mögliche Folgeschäden auf. Das äußere Erscheinungsbild hat bei diesen Patientinnen einen hohen Stellenwert. Negative ästhetische Aspekte wie verkürzte Schneidezähne sind daher sehr relevant. Ich zähle auch temperaturempfindliche Zähne bis hin zur Nervenschädigung und funktionelle Probleme durch den Verlust der Bisshöhe auf.
In der zweiten Sitzung weise ich nochmal auf die Erosionen hin. Die Frage „Können Sie sich vorstellen, was die Ursache ist?“ gibt der Patientin die Möglichkeit, sich zu offenbaren. Mir gibt es die Möglichkeit, sie zu ermutigen, sich in Therapie zu begeben. Dieses Gespräch führe ich immer unter vier Augen, ohne meine Assistenz.
Ich frage gezielt nach Magenproblemen und Erbrechen, um auf Bulimie zu kommen. Differentialdiagnostisch müssen wir bei Erosionen an Reflux denken.
Patientinnen, die an dieser Stelle abblocken, dränge ich nicht weiter, um sie nicht zu vertreiben. Solange die Patientin nicht bereit ist, ihre Bulimie im Rahmen einer Psychotherapie zu behandeln, können wir als Zahnärzte nur dafür sorgen, die Schäden am Gebiss möglichst gering zu halten.
Folgeschäden vorbeugen
Drei bis vier Mal jährlich sollte die zahnärztliche Prophylaxe stattfinden. Die häufigeren Termine geben uns die Gelegenheit, das Vertrauensverhältnis zu vertiefen und weitere Schäden durch die Magensäure zu behandeln. Sollte sich die Einstellung der Patientin in der Zwischenzeit geändert haben, hat sie Gelegenheit, sich einen Psychotherapeuten empfehlen zu lassen. Dazu sagt Diplom-Psychologin Kirsten Schedler, leitende Psychologin an der Schön Klinik Bad Bramsted:
Natürlich wäre eine Psychotherapie mit Reduktion von Essanfällen und Erbrechen die sinnvollste Maßnahme für die Erhaltung der Zähne. Manchmal dauert es jedoch, bis die Betroffenen sich hierzu bereit erklären bzw. manchmal dauert es auch, bis die Frequenz des Erbrechens im Rahmen der Psychotherapie reduziert werden kann. Daher ist zunächst eine sorgfältige Mundhygiene von großer Bedeutung.
Für die häusliche Mundhygiene empfehlen wir Zahnbürsten mit weichen Borsten und eine Zahnpasta, die nur gering abrasiv ist (RDA<40). Die Ernährungsberatung zielt auf Vermeidung säurehaltiger Nahrungsmittel und Getränke sowie auf bestmögliche Neutralisation nach einem Säureangriff. Dies gelingt, indem die Patientin nach dem Erbrechen mit Wasser, besser noch mit einem flüssigen Mittel zur Neutralisierung der Magensäure spült. Eine gute Alternative ist das Kauen zahnpflegender Kaugummis, denn diese regen die Speichelproduktion an. Entscheidend ist der Hinweis, nach dem Erbrechen mindestens eine Stunde mit dem Zähneputzen zu warten, um die angegriffene Zahnsubstanz nicht mechanisch zu bearbeiten.
Wichtig sind Fluoridierungsmaßnahmen. Tägliches Spülen mit niedrig konzentrierter Fluoridlösung (0,025-0,05%) eignet sich dafür. Zusätzlich empfehlen wir, ein bis zwei Mal wöchentlich ein pH-neutrales Fluoridgel aufzutragen.
Zahnerhaltung in der Praxis
Höher konzentrierte Fluoridlacke ergänzen das Konzept, finden aber nur Anwendung in der Zahnarztpraxis.
Wir bieten den Patientinnen auch an, individuelle Medikamententrägerschienen herzustellen. Diese können sie nach dem Erbrechen mit basischem Fluoridgel oder flüssigen Antacida füllen und tragen.
Sehr praktikabel ist es, freiliegendes Dentin zu versiegeln. Eine Schicht Kunststoff schafft einen mechanischen Schutz.
Wichtig: All diese Maßnahmen zur Stärkung des Zahnschmelzes können zwar die unmittelbaren Schäden der Brechanfälle mindern. Sie beseitigen aber natürlich nicht die Ursache: Die Bulimie an sich.
Zähne restaurieren – wann?
Erst wenn die Patientin nicht mehr regelmäßig erbricht!
Der Aufbau verloren gegangener Zahnsubstanz mit Anheben des abgesunkenen Bisses kann eine sehr komplexe Zahnbehandlung werden. Hier ist die Abstimmung mit dem behandelnden Psychotherapeuten bzw. Psychiater wichtig. Die Zahnästhetik und das Wohlbefinden beim Kauen wiederherzustellen, kann zum richtig gewählten Zeitpunkt einen großen Fortschritt bedeuten.
Fazit
Je früher die Essstörung erkannt und therapiert wird, desto besser ist auch die zahnmedizinische Prognose.
Wir Zahnärzte sollten unseren Patienten kompetente Anlaufstellen empfehlen können, wenn sie bereit sind, ihre Bulimie und nicht nur deren Begleiterscheinungen zu behandeln.
Umgekehrt sollten die Psychiater und Psychotherapeuten essgestörter Patienten darauf hinweisen, wie wichtig die zahnärztliche Betreuung im Gesamtkonzept ist.
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Sehr guter Artikel. Ich arbeite in der zahnmedizinischen Branche und bin immer wieder erschreckt, wie viele junge Menschen an einer Essstörung leiden. Die wenigsten geben es zu. Meistens heißt es sie trinken sehr viel Cola und das Salatdressing ist Schuld. Auf meinem Blog thematisiere ich noch die verschiedenen Behandlungsmethoden nach einer Bulimie.